Abstimmung über eine lebensfeindliche Vorlage
Herr Müller, was ändert sich bei einer Annahme der Verfassungsänderung in der Fortpflanzungsmedizin?
Die Verfassungsänderung führt zu einer weitgehenden Liberalisierung der Fortpflanzungsmedizin. Mit dem bestehenden Verfassungsartikel konnten nur so viele Embryonen entwickelt werden, „als ihr (der Frau) sofort eingepflanzt werden können“. Daraus leitet sich die sogenannte Dreierregelung ab: Es dürfen drei Embryonen durch künstliche Befruchtung geschaffen werden, diese werden danach unverzüglich eingepflanzt. Mit der Verfassungsänderung dürfen „so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden, als für die medizinisch unterstützte Fortpflanzung notwendig ist“.
Die Verfassungsänderung lässt natürlich einen immensen Interpretationsfreiraum, wie viele Embryonen denn medizinisch notwendig sind. Der Bundesrat setzte sich für die Beibehaltung der Dreier-Regel ein, wurde jedoch vom Parlament überstimmt. Wir müssen uns deshalb bewusst sein, dass die anstehende Änderung der Verfassungsbestimmung zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich wohl extrem liberal ausgelegt wird. Vor allem in Hinsicht auf die bevorstehende Präimplantationsdiagnostik-Abstimmung ist dies wichtig zu wissen.
Was ist Präimplantationsdiagnostik (PID) und wie funktioniert diese?
Präimplantationsdiagnostik (PID) bezeichnet die Untersuchung eines durch künstliche Befruchtung entstandenen Embryos vor der Einpflanzung in die Frau. Anomalien der Chromosomen und bestimmte Erbkrankheiten sollen so vor der Implantation in die Gebärmutter erkannt werden. Im Anschluss können Eltern und Arzt entscheiden, welche Embryonen zur Einpflanzung geeignet sind oder nicht. Dies ist momentan gesetzlich nicht erlaubt Deshalb soll dies mit der Änderung der Verfassungsbestimmung zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich ermöglicht werden. Einige Monate danach soll die PID eingeführt werden – sofern nicht mit einem Referendum eine Abstimmung erzwungen wird.
Wir müssen uns bewusst sein: Mit der Einführung der PID wird künftig zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterschieden. Wir stimmen also über eine Vorlage ab, die im Geiste eines Euthanasiegesetzes entspricht. Ausserdem hat die PID aufgrund der medizinischen Möglichkeiten das Potential bei weiteren Liberalisierungsschritten ein neues Eugenikgesetz zu werden.
Wie sähe bei einer Annahme der Verfassungsänderung die Zukunft der Fortpflanzungsmedizin in der Schweiz aus?
Bei einer allfälligen Annahme am 14. Juni könnten jährlich über 6000 Paare von der PID Gebrauch machen. Das Kernproblem bei der PID liegt aber nicht bei dem grossen und wachsenden Kreis von potentiellen Anwendern sondern woanders: Denn damit unter Anwendung der PID ein Kind auf die Welt kommen kann, sind durchschnittlich 40 (!) Embryonen notwendig. Den restlichen 39 Kindern in dem frühesten Entwicklungsstadion wird jegliches Lebensrecht verwehrt.
Ausserdem dürfen bei einer Annahme der Verfassungsänderung „so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden, als für die medizinisch unterstützte Fortpflanzung notwendig ist“. Das heisst, dass die Embryonen, die nicht eingepflanzt werden, entweder für eine spätere Einpflanzung in die Frau verwendet oder eingefroren werden. Nach zehn Jahren muss der eingefrorene Embryo vernichtet oder an die medizinischen Forschung übergeben werden. Die Hauptgefahr besteht jedoch in der Selektion der Embryonen. Mit der PID kann nicht nur eine mögliche spätere Behinderung oder Erbkrankheit festgestellt werden. In diesem frühen Stadion ist bereits das Geschlecht oder die Augenfarbe feststellbar. Die Anwendung dieser Erkenntnisse als Selektionsmerkmal ist zwar nicht vorgesehen. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass weitere Liberalisierungsschritte absehbar sind. Und zwar bis zu dem Punkt, an dem sämtliche Möglichkeiten der Diagnostik ausgeschöpft sind.
Welche Folgen könnte diese Gesetzesänderung auf die Gesellschaft haben?
Ganz genau kann dies nicht vorhergesagt werden. Es gibt glücklicherweise immer wieder Fehlentwicklungen, die zu einer Besinnung und Umkehr führten. Im Fall der PID befürchte ich, dass sich der persönliche Egoismus durchsetzt. Das heisst, dass das Wunschkind auch wirklich den Wunschvorstellungen entsprechen muss. Behinderungen oder andere unerwünschte Eigenschaften, werden nicht mehr akzeptiert, da sie ja vermeidbar sind. Das menschliche Leben verkommt damit zu einem Produkt, das man nach Belieben aussuchen, zusammenstellen und dann in Auftrag geben kann. Das kann und darf nicht die Zukunft des Menschen sein!
Aus diesem Grund bitte ich Sie: Stimmen Sie am 14. Juni 2015 Nein zur „Änderung der Verfassungsbestimmung zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich“ und damit Nein zur PID. Es steht viel auf dem Spiel!